Im Gespräch mit Philip

Engagiert für #ichbinhier

Hasskommentare und Beleidigungen sind in den Kommentarspalten der sozialen Medien längst zur Tagesordnung geworden. Philip sieht darin eine Gefahr für die Demokratie und möchte mit seinem ehrenamtlichen Engagement in der Facebookgruppe #ichbinhier dazu beitragen, die Debattenkultur im Internet zu verbessern. Um zu verstehen, wer sich hinter den Hasskommentaren verbirgt, führt Philip Datenanalysen durch.

Veröffentlicht

21. Oktober 2020

Geführt von

Claudia Haas

Mit deinem Engagement bei der Facebookgruppe #ichbinhier möchtest du die aktuelle Debattenkultur im digitalen Raum verändern. Was ist #ichbinhier und welchen gesellschaftlichen Beitrag leistet ihr dort?

#ichbinhier ist eine große Facebook-Gruppe, in der sich viele Leute zusammengeschlossen haben, um im Internet gemeinsam Hatespeech zu widersprechen. Unser Ziel ist es, dass die Kommentarspalten wieder zu Diskussionsräumen werden. Das ist viel einfacher in einer großen Gruppe, denn alleine wäre der Impact sehr gering. Unser Moderationsteam scannt täglich die Facebookseiten von Medienhäusern auf Hasskommentare und postet sie als „Aktion“ in die Gruppe. Dann wird dazu aufgerufen, gemeinsam unter diesem Artikel zu kommentieren und zu versuchen, dort ein positives Diskussionsklima zu erreichen. Es gibt keine Vorgaben bezogen auf die politische Ausrichtung der Gegenrede-Kommentare, teilweise entstehen auch Diskussionen unter #ichbinhier-Mitgliedern. Man kann frei entscheiden, bei welchen Aktionen man mitmachen möchte. Je nach aktuellen Themen in den Nachrichten steigt und fällt auch der Anteil an Hatespeech. In der Regel starten wir täglich drei bis fünf Aktionen, über die auch unser Messenger-Bot informiert. Die Kommunikation in der Gruppe ist also relativ dezentral. Aktionen starten wir auch außerhalb der Nachrichtenseiten. Zum Beispiel, wenn ein*e Künstler*in einen Shitstorm erntet, weil er oder sie sich gegen Rechts ausgesprochen hat.

#ichbinhier ist eine junge Initiative mit einer interessanten Entstehungsgeschichte. Wie ist die Gruppe entstanden und wie bist du Teil von ihr geworden?

Im Grunde genommen folgt es einem komplett neuen Konzept, weil es darum geht, dass es eben keine Top-down-Organisation ist. Die Aktionen kommen nur durch den Zusammenschluss vieler Leute zustande, die sich gegenseitig unterstützen. Gestartet wurde das Projekt, als im Zuge der Trump-Wahl, dem Brexit und der Flüchtlingskrise die Hasskommentare im Internet immer weiter zunahmen. In den Berichterstattungen auf Facebook waren oft extrem menschenverachtende Kommentare dabei. Das Konzept haben wir uns bei einer schwedischen Gruppe abgeschaut, die noch deutlich größer ist. Nachdem #ichbinhier auf Facebook gegründet wurde, sind wir schnell gewachsen. Es kamen immer wieder auch Influencer*innen in die Gruppe, die ihre Fans mitgebracht haben, oder es wurde in der Presse über uns berichtet. Ich selbst bin der Gruppe relativ früh beigetreten und war anfangs einfaches Mitglied. Später habe ich Datenanalysen von unseren Aktionen gemacht, weil ich interessiert daran war, wer die Leute hinter den Hasskommentaren sind und warum ihre Kommentare so viele Likes bekommen. Im Zuge dessen habe ich herausgefunden, dass die Aktivitäten – ähnlich wie bei der #ichbinhier-Gruppe – auf eine kleine Minderheit zurückgehen. Es sind eben nicht alles unterschiedliche Accounts, die auf eine negative Grundstimmung in der Bevölkerung schließen lassen können. Als Teil des Moderationsteams habe ich auch an Tools mitgearbeitet, die uns die alltägliche Arbeit erleichtern. Ein Tool zeigt zum Beispiel an, welche Artikel in letzter Zeit besonders stark kommentiert werden. Das ist ein guter erster Indikator für Hatespeech, weil sie meistens viel Interaktion nach sich zieht. Oft passiert das bei Artikeln über emotionale Themen. Mit dem Tool können die Moderator*innen, wir nennen sie Mods, eine Vor-Filterung solcher Artikel vornehmen. Aber Facebook hat den Zugang zu Nutzer*innendaten für Entwickler*innen beschränkt, sodass dieses Tool im Moment nicht mehr nutzbar ist1. Das trifft natürlich auch die Wissenschaft. Ein weiteres Tool, das ich geschrieben habe, hilft uns, die Kommentare in den vielen Kommentarspalten besser zu finden. Heutzutage kann auch künstliche Intelligenz Hatespeech erkennen, damit könnte unsere Arbeit noch weiter erleichtert werden.

In eurer Gruppe finden sich Menschen aus ganz Deutschland virtuell zusammen. Gilt das auch für das Moderationsteam? Wie gestaltet sich eure interne Zusammenarbeit?

#ichbinhier ist eine rein digitale Bewegung. Das macht das Engagement flexibel, weil man sich an den Aktionen und im Moderationsteam beteiligen kann, wenn man gerade Zeit hat, und nicht, wenn man muss. Schon vor dem Lockdown im Zuge der Corona-Pandemie haben wir uns über digitale Plattformen organisiert. Für uns ist das vollkommen normal, weil das Moderationsteam über ganz Deutschland verteilt ist und sich ohnehin wöchentlich in digitalen Besprechungen trifft. Dafür nutzen wir Slack, ein Kommunikationstool. Diejenigen, die die Kommentarspalten auf Hassrede scannen, arbeiten zudem nach einem Zeitplan, damit jederzeit jemand Ausschau hält. Ansonsten arbeiten eigentlich alle so, wie es in ihren Alltag passt. Ein- bis zweimal im Jahr finden Workshops statt, bei denen sich das Moderationsteam real trifft und Strategien erarbeitet. Vor den ersten Workshops hatten wir uns teilweise noch nie wirklich gesehen, uns aber schon stundenlang miteinander online unterhalten. Es war spannend, welch unterschiedliche Menschen sich in der #ichbinhier-Gruppe zusammengefunden haben.

Was hat dich dazu bewogen, gegen Hassrede vorzugehen?

Ich hatte das Gefühl, dass das Thema komplett unterschätzt wird. Die meisten Medien bzw. die Redaktionen haben noch nicht verstanden, was in den sozialen Medien passiert. Gleichzeitig haben rechtsextreme Gruppen sehr früh erkannt, wie sie soziale Medien für ihre Zwecke einsetzen können. Das führt zu einem Ungleichgewicht. Für mich hat das Thema auch mit der Wahl von Donald Trump an Relevanz gewonnen, weil es währenddessen in den sozialen Medien große Manipulationskampagnen gab. Das passiert aber nicht nur im Ausland, auch in Deutschland wurden zum Beispiel in der Flüchtlingsdebatte in den sozialen Medien viele Falschmeldungen geteilt. Das hat zu einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung geführt, rechte Parteien haben Zulauf bekommen und besonders hat man diese Stimmung dann in den Kommentarspalten gesehen. Ich habe mich gefragt, wie ein Dialog entstehen kann und wie man einschätzen kann, was da in den Kommentarspalten passiert. Diesen blinden Fleck zu untersuchen war meine ursprüngliche Motivation.

Deine Analysen und Recherchen liefern wissenschaftliche Hintergrundinformationen für #ichbinhier, um ein Bild von denjenigen zu bekommen, die hinter den Hasskommentaren stecken, und um besser zu verstehen, wie sie organisiert sind. Wie bist du bei den Analysen vorgegangen?

Viele der Skills habe ich mir selbst angeeignet, weil es mich so sehr interessierte. Es gab auch eine Kooperation mit dem ISD, dem Institute for Strategic Dialogue. Das ISD hat rechte Gruppen unterwandert und aufgedeckt, welche Strategien sie verfolgen. Die Gruppen organisieren sich dort genauso, wie sich #ichbinhier organisiert. Nur nicht mit dem Ziel, eine gute, offene Diskussionskultur zu erreichen, sondern eine, in der nur eine rechte Meinung akzeptiert wird. Die rechten Gruppen haben Strategiehandbücher entwickelt, in denen explizit steht, dass man die Gegner*innen solange beleidigen soll, bis sie keine Lust mehr haben. Dann gehört der Diskursraum der Kommentarspalten den Rechten. Das ist das Ziel dieser ganzen Aktion. In den Medien erhalten rechtsextreme Gruppen oft nicht so leicht eine Stimme. Deswegen sind die sozialen Medien so eine Art Ausweichstraße für sie, um ihre Ideologie in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Zu den Erkenntnissen des ISD habe ich die Daten über unsere Aktionen geliefert, mit denen wir zeigen konnten, dass immer dieselben aktiven Leute hinter den Kampagnen stehen. Die Ergebnisse der Studie haben wir gemeinsam veröffentlicht. Eine solche Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit ist auch ein Teil von #ichbinhier, um auf die existierenden Probleme hinzuweisen.

Was muss langfristig geschehen, um die Debattenkultur im Internet offener und toleranter zu gestalten?

Wir können zwar Gegenrede leisten, aber langfristig funktioniert es nur, wenn die Gesellschaft auf das Problem aufmerksam und auch aktiv wird. Einerseits versuchen wir, bei den großen Medienseiten zu erreichen, dass sie ihre Kommentarspalten aktiver moderieren, um dort ein besseres Diskussionsklima zu erreichen und Manipulationskampagnen von Rechtsextremen zu verhindern. Als Argument gegen Moderation wird häufig vorgebracht, dass das auf eine Einschränkung der Meinungsfreiheit hinauslaufe. Aber ohne Moderation übernehmen rechtsextreme Trolle die Kommentarspalte, und das schränkt die Meinungsfreiheit auch ein. Wir können nachweisen, dass sehr viele Leute, die Hasskommentare verfassen, auch Inhalte der Identitären Bewegung2 geliked haben, welche wiederum vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Auf politischer Ebene wollen wir langfristig darauf aufmerksam machen, dass es diese Manipulationskampagnen gibt. Eine Befürchtung ist daher, dass Entscheidungsträger*innen der Politik die Kommentarspalten lesen und denken, die seien in irgendeiner Form repräsentativ. Dabei ist das schon allein deshalb nicht der Fall, weil zum Beispiel junge Menschen nicht mehr auf Facebook, sondern auf Instagram sind. #ichbinhier macht den Manipulationskampagnen durch die Gegenrede-Aktionen einen Strich durch die Rechnung. Wir arbeiten darauf hin, dass wieder ein normaler Diskurs möglich ist.

Was macht einen Kommentar zu einem Hasskommentar?

Es ist wichtig zu unterscheiden, was legitime Empörung und was koordinierter Hass ist. Besonders in einer Demokratie muss man Kritik äußern können, mit der sich auch auseinandergesetzt wird. Alles andere zerstört die Demokratie und den Diskurs und führt dazu, dass Menschen mit antidemokratischem Verständnis mehr Macht bekommen, die sich nur durch Beleidigungen und Drohungen verständlich machen können. Allerdings ist es gar nicht so einfach, legitime Kritik und Hassrede auseinanderzuhalten. Dafür muss man prüfen, von wem der Post ausgeht und wo der Ursprung einer bestimmten Hassrede-Kampagne ist. Die Fähigkeiten zu einer schnellen Prüfung sind in Deutschland sehr unterentwickelt, es existiert noch kein automatisches Tool dafür. Es gibt auch relativ wenige Leute, die sich diese Kampagnen genauer angucken und analysieren. Weil die Plattformen immer weiter in einzelne Inseln zerbrechen. Früher waren alle auf Facebook, mittlerweile spielt sich aber viel auch auf anderen Plattformen wie Telegram oder Instagram ab. Das erschwert natürlich das Beobachten und Auswerten der Aktivitäten.

Welche Auswirkungen hat dein Engagement bzw. haben die Aktionen von #ichbinhier? Konntet ihr schon Erfolge verzeichnen?

Unsere Auswertungen haben gezeigt, dass viele Leute, die unsere Kommentare liken, nicht in der #ichbinhier-Gruppe sind, und genau das möchten wir erreichen: Leute, die durch unsere Kommentare in der Kommentarspalte aktiviert werden, die anfangen, zu liken und vielleicht auch ihre Meinung sagen. Denn das ist eines der Probleme. Wir wissen aus Studien, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr traut, im Netz seine Meinung zu sagen – aus Angst vor Hatespeech. Wenn nur noch die Leute ihre Meinung sagen, die einem ideologischen Antrieb folgen, führt das oft dazu, dass die Diskurse so polarisieren, dass gar kein Kompromiss mehr möglich ist. Eine Studie der Uni Düsseldorf hat untersucht, welche Kommentare zu welchen Folgekommentaren führen, und herausgefunden, dass positive Kommentare auch zu einer positiven Diskussion führen und negative Kommentare zu einer negativen Diskussion. Das erscheint trivial, aber für uns ist der wissenschaftliche Beleg hilfreich, um an unserer Strategie zu feilen. Zudem bestätigt die Studie unser Engagement: Die Diskussionskultur im Internet wird durch Gegenrede verbessert und unsere #ichbinhier-Kommentare, die sich positiv in Diskussionen einbringen, führen zu weiterer Konstruktivität. Bei vielen Medien konnten wir schon erreichen, dass der Stellenwert der Kommentarmoderation größer geworden ist. Es wird dort mehr in die Diskussion eingegriffen und es werden mehr eigene Kommentare geschrieben. Das hat sich auf jeden Fall verbessert.

Vielen Dank für das Gespräch, Philip!

  1. 2018 führte Facebook (API-)Beschränkungen für seine App-Entwicklungsplattform ein, die zuvor den Zugriff von Außenstehenden auf die Daten zu öffentlichen Kommentaren ermöglichte. APIs sind Programmierschnittstellen, die anderen Programmen ein Tool zur Verfügung stellen, über das sie sich an das Softwaresystem anbinden können.
  2. Die Identitäre Bewegung ist eine rechtsextreme, völkisch orientierte Gruppierung, die von einer geschlossenen, ethnisch homogenen Kultur in Europa ausgeht und diese bedroht sieht (Dudenredaktion, o.J., abgerufen am 20.08.2020).