Kollaborative Problemlösung und Wissensproduktion

Wie werden Aufgaben und Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens kollaborativ und digital im Sinne der Zivilgesellschaft gelöst? Dieser Artikel liefert wissenschaftliche Hintergründe zum Themenfeld.

Veröffentlicht

21. Oktober 2020

Autorin

Claudia Haas

DOI

doi.org/10.5281/zenodo.4072810

Seit Bestehen des Internets sind nicht nur Unmengen an Informationen öffentlich zugänglich geworden. Die Digitalisierung hat auch eine Vielzahl kollaborativer und partizipatorischer digitaler Praktiken hervorgebracht, wie zum Beispiel die kollektive Generierung von Wissen (z. B. Wikipedia), die gemeinsame Sammlung von (Geo-)Daten (z. B. ASB SCHOCKT) und der produktive Umgang mit Daten mit Erkenntniswert für die Zivilgesellschaft (z. B. Data Science for Social Good Berlin). Für etablierte Organisationen des Engagements, aber auch für kleine Vereine bringt die digitale Kollaboration eine entscheidende Neuerung im Engagement mit sich, indem sie neue Formen der Beteiligung ermöglicht. Online-Teilnahmen an Sitzungen, onlinebasierte Abstimmungen oder die Auseinandersetzung mit digitalen Daten und Materialien verdeutlichen die Wirksamkeit von digitalem Engagement. Dabei ändern digitale Infrastrukturen und Werkzeuge nicht nur die Mittel des zivilgesellschaftlichen Engagements, sondern auch die Themen und Inhalte (BMFSFJ, 2020).

Demokratisierung von Informationen durch Participatory Mapping

Kollaborative Zusammenarbeit kann unter anderem in Crowdsourcing-Projekten erfolgen, bei denen eine digital vermittelte Arbeitsteilung unter einer prinzipiell unbeschränkten Anzahl von Nutzer*innen stattfindet, die sich an der Lösung einer Aufgabe oder Problemstellung beteiligen. Im Fokus des Crowdsourcing steht das Sammeln von Daten, beispielsweise über Luft- und Umweltverschmutzung oder über barrierefreie Orte. Eine Form des Crowdsourcing ist das Participatory Mapping (deutsch: partizipative Kartierung). Es folgt einem Bottom-up-Ansatz, der es Bürger*innen ermöglicht, mit ihrem Wissen und ihren Anliegen die Erstellung von Karten zu unterstützen und somit Grundlagen für Entwicklungsprozesse zu schaffen.

Bürger*innen können sich an räumlichen Planungen und Entscheidungs­prozessen beteiligen

Im Gegensatz zum traditionellen Top-down-Ansatz, bei dem die Erstellung von Karten einer spezialisierten Gruppe wie Planer*innen, Ingenieur*innen etc. vorbehalten ist und die Zivilgesellschaft bestenfalls nur indirekt profitiert, weil vorwegnehmend Entscheidungen über die Daten getroffen werden, sammeln und bündeln die verschiedenen Beteiligten beim Participatory Mapping lokales Wissen, um räumliche Ideen und Planungen zu reflektieren, zu diskutieren und transparenter zu machen. Die Offenheit und Transparenz dieses Prozesses geben einer breiten Masse die Möglichkeit, sich an räumlichen Planungen und Entscheidungsprozessen in der eigenen Umgebung zu beteiligen.

Dem partizipativen Ansatz folgend, demokratisiert gemeinsames Kartieren Informationen, indem diese nicht länger unzugänglich oder in den Händen einiger weniger sind, sondern alle Akteur*innen die Möglichkeit haben, sich am Sammeln von Daten zu beteiligen und daraus Entscheidungen und Handlungen abzuleiten. Bei den zu kartierenden Daten kann es sich um konkret messbare Daten handeln, wie zum Beispiel Standorte von Straßen, Geschäften und Bushaltestellen, oder auch um qualitative Daten, wie etwa das Gefühl der Sicherheit, der Zugehörigkeit oder Barrierefreiheit. Solche qualitativen Daten sind Teil des lokalen Wissens – informelle Daten, die sich nur aus persönlichen, individuellen Erfahrungen an einem bestimmten Ort gewinnen lassen (Warner, 2015). Participatory-Mapping-Projekte können unter Verwendung verschiedener Technologien umgesetzt werden, oft durch Vermessung, Global Positioning System (GPS) oder eine digitale Sammlung historischen und politischen Wissens (BMFSFJ, 2020, S. 81). Heutzutage handelt es sich dabei häufig um GPS-Daten von Smartphones, die Nutzer*innen freiwillig zur Verfügung stellen und die gesammelt, aufbereitet und zu Karten geformt werden (Haklay, 2013). Die Verarbeitung erfolgt in der Regel durch fachkundige Expert*innen gemeinnütziger Organisationen. Ein Beispiel für digitales Participatory Mapping ist das Projekt ASB SCHOCKT des Arbeiter-Samariter-Bunds. ASB SCHOCKT kartiert Laien-Defibrillatoren (Automatisierte Externe Defibrillatoren (AED-Geräte)) und zeigt den Standort des nächstgelegenen Gerätes sowie Informationen zu dessen Verfügbarkeit an (als Web-Karte und App). AED-Geräte können dabei von Laien gemeldet und registriert werden, zudem können sich Ersthelfer*innen eintragen. Die Initiative wurde ursprünglich vom ASB Hamburg ins Leben gerufen (HAMBURG SCHOCKT) und wird kontinuierlich auf weitere Städte ausgeweitet. Ein weiteres Beispiel ist die vom Verein Sozialhelden e.V. 2010 initiierte Wheelmap, eine Karte, auf der barrierefreie Orte verzeichnet sind. Sie erleichtert Menschen im Rollstuhl den Alltag und regt die Zivilgesellschaft an, mehr Orte rollstuhlgerecht zu gestalten. Das Open-Source-Projekt stellt eine Schnittstelle für die Einbindung der Daten in andere Karten und Projekte bereit. Die Wheelmap hat inzwischen über eine Million Karteneinträge (Stand: August 2020). Die Funktion von Wheelmap ist prototypisch für die freiwillige Sammlung und Verbreitung von Informationen, die gesellschaftlich nutzbar sind. Zwar konnten Bürger*innen bereits früher Informationen zur Barrierefreiheit von Orten untereinander austauschen, doch erst mithilfe der digitalen Infrastruktur sind diese Informationen jetzt auch öffentlich zugänglich. Ein weiteres Beispiel für Participatory Mapping ist die Online-Plattform mundraub, die Fundorte von frei zugänglichen Obstbäumen anzeigt.

Die kollektive Identität von Online-Gemeinschaften

Kollektive Identität wird durch den Glauben an eine Leitidee oder gemeinsame Interessen bzw. politische Ziele erzeugt

Die beteiligten Bürger*innen in kollaborativen Projekten zeichnet eine kollektive (Gruppen-)Identität aus, auch wenn ihr Engagement meist eher kurzfristig und punktuell ist. Sie können daher formal als Gemeinschaft bezeichnet werden (BMFSFJ 2020), insofern Gemeinschaften durch „eine über Ad-hoc-Aktivitäten deutlich hinausgehende Fokussierung auf ein Thema und die Entwicklung einer Gruppenidentität mit geteilten Grundsätzen, Sichtweisen oder Expertisen unter den aktiven Gemeinschaftsteilnehmern” (Dolata & Schrape 2018, S. 23) charakterisiert sind. In Bezug auf das Participatory Mapping wird Bindung und kollektive Identität hauptsächlich durch gemeinsame Interessen, den Glauben an eine Leitidee – wie etwa die Schaffung von Barrierefreiheit – oder gemeinsame politische Ziele erzeugt.

Häufig stellen ideelle Grundsätze, etwa die Mitwirkung an einem gemeinnützigen Projekt, sogar den größten Anreiz für die Beteiligung dar. Online-Gemeinschaften sind nicht mehr notwendigerweise auf persönliche Begegnungen, Tradition und Herkunft angewiesen, denn die partizipativen Medien ermöglichen medial vermittelte Interaktionen mit anderen über Zeit- und Raumgrenzen hinweg („many-to-many“) (Gruzd et al. 2011). Mit dem Internet eröffnen sich demzufolge zuvor nicht da gewesene niedrigschwellige Zugänge zu kollektiven Aktivitäten und zur Mitwirkung an gemeinschaftlichen Arbeits- und Produktionsprozessen (Dolata & Schrape 2018). Kollaborative Produktionsprozesse unter Einbeziehung des Internets zeichnen sich durch eine breite Wissensvielfalt der Gemeinschaften aus, da die Beteiligten in der Regel aus unterschiedlichen demografischen Hintergründen, Organisationen und sogar wissenschaftlichen Bereichen stammen (Franzoni & Sauermann 2014, S. 12).

Digitale Daten als Potenzial

Eine weitere Praktik der kollaborativen Wissensarbeit stellen Datenerhebungen und -anaylsen dar. Die Bedeutung von Daten, die durch die Nutzung digitaler Infrastrukturen entstehen, gewinnt zunehmend an Relevanz: Datenmanagement, Möglichkeiten der Daten-Erfassung, -Aufbereitung, -Analyse sowie -Nutzung für Geschäfts- bzw. Organisationsentscheidungen, sind Faktoren, die gemeinnützigen Organisationen neue Handlungsfelder eröffnen und mit denen sie ihre eigene Wirksamkeit messen können (Dufft et al. 2017; vgl. auch Horak & Baumüller 2018).

Die Bedeutung von Daten, die durch die Nutzung digitaler Infrastrukturen entstehen, gewinnt zunehmend an Relevanz

Das Potenzial der Auswertung digitaler Daten wird von gemeinnützigen Organisation im Engagementsektor jedoch wenig ausgeschöpft, wie Jana von der Organisation Data Science for Social Good Berlin im Interview feststellt: „In Bezug auf die digitalen Prozesse liegen [Nicht-Regierungsorganisationen] zehn Schritte zurück … Deswegen beraten wir NGOs auch niedrigschwellig in Beratungsstunden und Workshops”. Zu ähnlichen Ergebnissen führte auch die Organisationenbefragung des Dritten Engagementberichts. Demnach konzentrieren sich Organisationen meist ausschließlich auf die Daten von Mitgliedern und Engagierten. Alternative digitale Datenquellen, etwa Datensätze von Kooperationspartner*innen oder frei verfügbare Daten, erreichen noch keine so hohe Wichtigkeit, was darauf schließen lässt, dass die damit verbundenen Möglichkeiten und Potenziale ungenutzt bleiben (BMFSFJ 2020). Durch eine systematische Datenauswertung ließe sich u. a. der Erfolg einzelner Maßnahmen leichter bemessen. Zudem könnte ein besseres Verständnis der Bedürfnisse und Anforderungen von ehrenamtlichen Mitgliedern die Gewinnung neuer Engagierter voranbringen und auch „die Anliegen des Engagementsektors gegenüber der Politik ließen sich überzeugender argumentieren” (BMFSFJ, 2020, S. 127).

Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Data Science for Social Good (DSSG) Berlin oder CorrelAid bieten unentgeltlich Datenanalysen und Beratungen speziell für den gemeinnützigen Sektor an. So verhelfen sie gemeinnützigen Organisationen in Beratungsstunden und Workshops dazu – basierend auf den vorhandenen Daten –, Erkenntnisse für das interne Datenmanagement zu gewinnen. Die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie DSSG Berlin und CorrelAid demonstriert, dass die gezielte Auswertung von Datensätzen einen erheblichen Wissensgewinn für gemeinnützige Organisationen und das Gemeinwohl erbringen kann. Entscheidend ist, dass die Datenanalyst*innen hohe Datenschutzstandards sowie den ethischen Umgang mit den Daten gewährleisten (BMFSFJ, 2020, S. 127). Wichtig ist ebenso die Frage, welche Daten für eine Analyse herangezogen werden, möglich ist u. a. der Einbezug öffentlicher Daten.

Innovation durch Kollaboration

Solche kollaborativen Projekte können auch Teil von Citizen-Science-Projekten sein, bei denen Aufgaben aus wissenschaftlicher Forschung und öffentlicher Verwaltung an Freiwillige informell delegiert und Bürger*innen so an professionellen Arbeitsfeldern beteiligt werden, die sich gewöhnlich fernab ihrer Lebenswelt befinden (BMFSFJ 2020). Häufig geschieht dies mit digitaler Technologie, zum Beispiel einer App oder wie im Projekt Radmesser mit einem Sensor am Fahrrad. Im Rahmen des vom Tagesspiegel initiierten Projekts Radmesser wurde untersucht, wie nah sich Auto- und Radfahrende im Berliner Stadtverkehr kommen. Der in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen entwickelte Sensor kann den Überholabstand zwischen Autos und Radfahrenden messen.

Initiativen wie diese, die sich auf Basis von zivilgesellschaftlich gewonnenem Wissen organisieren, verfolgen einen Anspruch, Aufgaben und Probleme des Zusammenlebens kollaborativ im Sinne der Zivilgesellschaft zu lösen. Die genannten Beispiele gemeinnütziger Projekte zeigen neue Modi der Wissensproduktion und kollaborativer Problemlösung auf, bei der sich sowohl die Mittel des Engagements, als auch die Inhalte und Themen verändert haben.

Literatur

[BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020). Dritter Engagementbericht – Schwerpunkt: Zukunft Zivilgesellschaft: Junges Engagement im digitalen Zeitalter. (BT-Drs. 19/19320). Berlin.

Dolata, U., & Schrape, J.-F. (2018). Swarms, Crowds, Communities, Movements – eine Typologie kollektiver Formationen im Internet. In M. Vilain & S. Wegner (Hrsg.), Crowds, Movements & Communities?! Potenziale und Herausforderungen des Managements in Netzwerken (S. 17–35). Nomos. https://doi.org/10.5771/9783845283050

Dufft, N., Kreutter, P., Peters, S., & Olfe, F. (2017). Digitalisierung in Non-Profit-Organisationen. Strategie, Kultur und Kompetenzen im digitalen Wandel. Stiftung WHU, Capgemini, Haniel Stiftung, betterplace lab, WHU – Otto Beisheim School of Management, CXP Group, fibonacci & friends. http://www.betterplace-lab.org/wp-content/uploads/Studie-Digitalisierung-in-Non-Profit-Organisationen-.pdf

Gruzd, A., Wellman, B., & Takhteyev, Y. (2011). Imagining Twitter as an Imagined Community. American Behavioral Scientist, 55(10), 1294–1318. https://doi.org/10.1177/0002764211409378

Haklay, M. (2013). Citizen Science and Volunteered Geographic Information: Overview and Typology of Participation. In D. Sui, S. Elwood, & M. Goodchild (Hrsg.), Crowdsourcing Geographic Knowledge (S. 105–122). Springer Netherlands. https://doi.org/10.1007/978-94-007-4587-2_7

Horak, C., & Baumüller, J. (2018). Digitalisierung in großen NPO – Befunde aus der Praxis. Verbands-Management, 44(2), 14–19.

Warner, C. (2015). Participatory Mapping: A Literature Review of Community-based Research and Participatory Planning, Social Hub for Community and Housing, Faculty of Architecture and Town Planning, Technion.