Digitale Schnittstellen zwischen Staat und Zivilgesellschaft

Inwieweit beeinflussen digitale Technologien das Engagement an Schnittstellen zwischen Staat und Zivilgesellschaft? Dieser Artikel liefert wissenschaftliche Hintergründe zum Themenfeld.

Veröffentlicht

21. Oktober 2020

Autorin

Claudia Haas

DOI

doi.org/10.5281/zenodo.4072776

Im Zuge der Digitalisierung hat sich auch die kommunikative Beziehung zwischen den verschiedenen Institutionen des Staates und der Zivilgesellschaft verändert. Bürger*innen setzen ihre freie Zeit und ihre Kompetenz dort ein, wo sie es für erforderlich halten. Wie die Jugendbefragung des Dritten Engagementberichts (2020) gezeigt hat, findet zivilgesellschaftliches Engagement vor allem in den Bereichen Sport und Freizeit, Umwelt- und Tierschutz, Rettungsdienst, Religion, Bildung und Kultur statt und setzt oft genau dort ein, wo kommerzielle oder staatliche Angebote aufhören. An dieser Schnittstelle zwischen Staat und Zivilgesellschaft ergeben sich mittels digitaler Technologien zunehmend neue Möglichkeiten des Engagements. Die digitale Transformation baut Barrieren ab, indem sie den Zugang zu vielen Informationen und Beteiligungsmöglichkeiten vereinfacht. Beobachten lassen sich im digitalen Raum verschiedene Formen der Begegnung, des kollaborativen Austauschs sowie der Zusammenarbeit, beispielsweise bei der Stadtplanung mit Projekten wie dem Innovationsbüro CityLAB oder verschiedener Projekte von Code for Germany. Ebenso entstehen Plattformen wie FragDenStaat, die die Zivilgesellschaft dabei unterstützen sollen, demokratische Rechte wahrzunehmen. Initiativen aus dem Bereich des gemeinnützigen Journalismus wie das Lern- und Lehrmedium politikorange bieten eine Berichterstattung, die allein gemeinnützigen, sozialen, kulturellen oder wissenschaftlichen Interessen folgt.

Open Government als Form der Bürger*innenbeteiligung

Für digitale Beteiligung und Engagement von Bürger*innen bestehen zahlreiche Möglichkeiten, die weit über eine Mitwirkung an Online-Umfragen oder -Diskussionen hinausgehen. Zunehmend von Bedeutung ist dabei die Auseinandersetzung mit stadtbezogenen Informationen und Daten, die in Verwaltungen erhoben werden (Bieber, 2018, S. 185). Die Bandbreite der Beteiligung reicht von Bürger*innenhaushalten, bei denen die Verwaltung einer Stadt, einer Kommune oder andere Verwaltungseinheiten Bürgerinnen teilweise oder gänzlich über Teile der frei verwendbaren Haushaltsmittel mitbestimmen lassen, über Konsultationen zu Leitbildern und Planungsvorhaben bis hin zu Konsultationen innerhalb der Gesetzgebung.

Die Orientierung an den Vorstellungen der Bürger*innen gilt als Voraussetzung der Effizienz und Akzeptanz staat­licher Angebote und Leistungen

Die Initiative und Delegation solcher Beteiligungs- und Engagementpraktiken geht dabei durchaus häufig vom Leitgedanken des Open Governments von den Verwaltungen selbst aus. Unter Open Government ist das Konzept eines offenen Staatshandelns zu verstehen, das durch transparente Prozesse und Entscheidungen, durch das Bereitstellen von Informationen und Daten und eine hierauf aufbauende verstärkte Interaktion und Kooperation mit Bürger*innen zu mehr Offenheit, Transparenz, Teilhabe und Zusammenarbeit beitragen möchte (Bundesministerium des Innern, 2012, S. 25-26). Es geht also weniger um die Frage, wie Verwaltungen Leistungen am einfachsten erstellen können, sondern eher darum, sich an den Bedürfnissen der Zivilgesellschaft bei öffentlichen Angeboten und Leistungen zu orientieren (Bechmann & Beck, 2002). Die Orientierung an den Vorstellungen der Bürger*innen gilt zugleich als Voraussetzung der Effizienz und Akzeptanz der staatlichen Angebote und Leistungen. Mit dieser Rückkopplung zwischen Verwaltung und Bürger*innen entsteht ein Kreislauf – das Verhältnis zueinander ist kein lineares mehr, sondern wird rekursiv.

Öffentliche Experimentier- und Diskursräume

Ein Beispiel für gestärkte Zusammenarbeit zwischen Behörden, Unternehmen, Wissenschaftler*innen und Bürger*innen ist das CityLAB. Es wird von der Technologiestiftung Berlin in Kooperation mit der Senatskanzlei Berlin betrieben, um innovative Projekte für Berlin voranzutreiben, etwa FixMyBerlin, eine Plattform zur Radverkehrsplanung. Bonner Bürger*innen haben hingegen über die Plattform Bonn macht mit die Möglichkeit, Einfluss auf kommunale Entscheidungen zu nehmen.

Die digitale Unter­­zeichnung einer Online-Petition ist einfach, unver­­bindlich und kurzfristig zu erledigen

Für die Einbindung der Zivilgesellschaft in einen offenen politischen Diskurs bietet wiederum die E-Petitionsplattform des Deutschen Bundestages eine gute Möglichkeit. Dort lassen sich Petitionen sowohl in Hinblick auf individuelle Anliegen und Problemlagen einreichen als auch in Form sogenannter Massen- und Sammelpetitionen für Anliegen von allgemeinpolitischer Relevanz. Ist eine bestimmte Anzahl an Unterschriften erreicht, erhalten Petent*innen die Chance, ihr Anliegen im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags öffentlich zu diskutieren (Deutscher Bundestag, o. J.). Für die Organisation von Petitionen gibt es auch private oder gemeinnützige Plattformen wie Avaaz, Change.org oder openPetition. Während die digitale Unterzeichnung einer Petition einen niedrigschwelligen Typus des zivilgesellschaftlichen Engagements darstellt, der sich durch seine „Einfachheit, seine geringe Verbindlichkeit sowie die Möglichkeit zur extrem kurzfristigen Aktivität” (BMFSFJ, 2020, S. 90) auszeichnet, ist die (Mit-) Organisation einer Petitionen meist mit einem erheblich größerem Aufwand verbunden.

Zivilgesellschaftliche Beteiligungsprojekte

Die Selbst­organisa­tion technologiege­triebener Initiativen ist pragmatisch, flexibel, schnell und transparent

Neben den staatlich geförderten Plattformen und staatlichen Institutionen, die auf ein höheres Maß an Bürger*innebeteiligung abzielen, existieren auch von zivilgesellschaftlichen, technologiegetriebenen Initiativen ins Leben gerufene Beteiligungsprojekte, meist zu spezifischen Themen. Nicht immer bestehen dabei Berührungspunkte zu etablierten Organisationen. Die Selbstorganisation solcher Initiativen ist pragmatisch, flexibel, schnell, transparent und bietet in der Regel einen niedrigschwelligen Zugang für Engagement-Interessierte (BMFSFJ, 2020). Die überwiegend ehrenamtlich agierende Community von Code for Germany entwickelt etwa sogenannte Civic-Tech-Anwendungen – Technologien, die zur Information, Einbindung und Verbindung der Bürger*innen mit der Regierung bzw. Verwaltung und untereinander eingesetzt werden, um zivilgesellschaftliche Interessenvertretung zu fördern. Das betrifft im Fall von Code for Germany etwa die Entwicklung von nützlichen Anwendungen und Visualisierungen rund um offene Daten zu vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Themen, wie der Aufarbeitung von Straßenbaumkatastern oder von sicheren Fahrradwegen. Das Ziel solcher Netzwerke besteht nicht in erster Linie darin, der Verwaltung Arbeit abzunehmen. Vielmehr geht es darum, den Bürger*innen die Nutzung von Verwaltungsdienstleistungen zu erleichtern und deren Prozesse transparenter für die Allgemeinheit zu gestalten.

Transparenz, Beteiligung und Stärkung von Bürger*innenrechten

Es zeigt sich ein neues Bedürfnis nach mehr Transparenz und Beteiligung, das mit dem digitalen Wandel in Verbindung ge­bracht werden kann

Mittlerweile existieren zahlreiche Beispiele für freiwilliges Erstellen und Verbreiten von Informationen, die gesellschaftliche Teilhabe vereinfachen oder ermöglichen. Dabei erweitern Digitalisierungsprozesse das Engagementspektrum kontinuierlich. Initiativen wie Abgeordnetenwatch oder FragDenStaat tragen etwa einem „neuen Bedürfnis nach mehr Transparenz und Beteiligung Rechnung, das mit dem digitalen Wandel in Verbindung gebracht werden kann” (Matuschek & Lange, 2018, S. 5). Die Plattform FragDenStaat stellt eine Schnittstelle zwischen Politik und Zivilgesellschaft dar. Sie vereinfacht die Kommunikation zwischen Behörden und Bürger*innen und macht transparent, wie Behörden mit Anfragen umgehen, indem sie deren Reaktion auf Informationsfreiheitsanfragen öffentlich dokumentiert. Auch im Bereich des Datenjournalismus lassen sich zunehmend Projekte finden, die durch Analysen und Visualisierungen öffentlich verfügbarer Daten Bürger*innenbelange unterstützen und Bürger*innenrechten stärken. Zum Teil werden die Daten für diese Projekte kollaborativ mit Bürger*innen erhoben (Citizen Sourcing) und im Nachgang nach vereinbarten Standards allgemein zugänglich gemacht (BMFSFJ, 2020, S. 127). Beispiele für dieses Zugänglichmachen von Informationen und Daten sind Participatory-Mapping-Projekte (deutsch: partizipative Kartierung) wie Wheelmap oder mundraub (nähere Informationen siehe Artikel kollaborative Problemlösung und Wissensproduktion).

Gemeinnütziger Journalismus – ein Beitrag zur Medienvielfalt

Eine besondere Form der Berichterstattung und Schnittstelle zur Zivilgesellschaft stellt gemeinnütziger Journalismus dar, auch Non-profit Journalism genannt. Gemeinnütziger Journalismus wird von Non-Profit-Organisationen praktiziert: professionelle sowie Nachwuchs-Journalist*innen nehmen eine aktive Rolle im Prozess der Recherche, des Berichtens sowie des Analysierens von Nachrichten und Informationen ein. Dabei werden keine primär wirtschaftlichen Ziele verfolgt. Stattdessen ist er auf gemeinnützige, soziale, kulturelle oder wissenschaftliche Ziele ausgelegt (Seitz, 2017; vgl. auch Coleman et al., 2008). In Ergänzung zum dualen Rundfunksystem kann gemeinnütziger Journalismus zur Medienvielfalt beitragen und die Beteiligung der Bürger*innen am demokratischen Prozess der Meinungsbildung stärken. Die Finanzierung der Publikationen läuft größtenteils über Mitgliederbeiträge, Spenden, Zuschüsse oder Preisgelder, die Journalist*innen selbst arbeiten vorwiegend ehrenamtlich (Seitz, 2017, S. 403). Für junge Menschen bietet beispielsweise die Jugendpresse Deutschland eine Anlaufstelle. Insbesondere deren Lehr- und Lernmedium politikorange ermöglicht es Jugendlichen, Erfahrungen in der Redaktionsarbeit zu sammeln, indem sie über Veranstaltungen und aktuelle Themen aus Politik und Gesellschaft berichten, um sie für die interessierte Öffentlichkeit aufzubereiten.

Kulturwandel durch das Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und Verwaltung

Über die medialen Möglichkeiten eröffnen sich neue Formen und Themen gesellschaftlichen Engagements, die eine Schnittstelle zwischen Staat und Zivilgesellschaft bilden. Die Teilnahme an Online-Diskussionen oder Petitionen, das Erstellen von Artikeln, Videos oder Blogs zu gesellschaftlichen Themen bis hin zum Programmieren neuer technischer Lösungen loten die neuen digitalen Möglichkeiten aus und bilden insbesondere für junge Menschen einen neuen Schwerpunkt des Engagements (BMFSFJ, 2020). Das Zusammenspiel zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Institutionen ermöglicht schließlich eine steigende Bürger*innenbeteiligung, Nutzer*innenorientierung und damit einhergehend ein Kulturwandel (vgl. Baack et al., 2019).

Literatur

Baack, S., Djeffal, C., Jarke, J., & Send, H. (2019). Civic Tech: Ein Beispiel für Bürgerzentrierung und Bürgerbeteiligung als Leitbild der Verwaltungsdigitalisierung. In T. Klenk, F. Nullmeier, & G. Wewer (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung (S. 1–9). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23669-4_29-1

Bieber, C. (2018). „Smart City“ und „Civic Tech“. Urbane Bewegungen im Zeichen der Digitalisierung? In A. Hepp, S. Kubitschko, & I. Marszolek (Hrsg.), Die mediatisierte Stadt: Kommunikative Figurationen des urbanen Zusammenlebens (S. 177–194). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20323-8

[BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020). Dritter Engagementbericht – Schwerpunkt: Zukunft Zivilgesellschaft: Junges Engagement im digitalen Zeitalter. (BT-Drs. 19/19320). Berlin.

Bundesministerium des Innern. 2012. Open Government Data Deutschland. Berlin: BMI.

Bechmann, G., & Beck, S. (2002). E-Government: Chancen zur Rationalisierung und Demokratisierung der Verwaltung? TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis, 11(3–4), 5–13. https://doi.org/10.14512/tatup.11.3-4.5

Die öffentliche Petition. (o. J.). Deutscher Bundestag. Abgerufen 31. August 2020, von https://epetitionen.bundestag.de/epet/service.$$$.rubrik.oeffentlichePetition.html

Coleman, R., Lieber, P., Mendelson, A. L., & Kurpius, D. D. (2008). Public life and the internet: If you build a better website, will citizens become engaged? New Media & Society, 10(2), 179–201. https://doi.org/10.1177/1461444807086474